Ein neues Buch im WiedenVerlag – und ob es wichtig ist oder nicht –
eine Rezension
Warum ein Ex-Stasimann sein Gewissen befragt
Wer ihn das erste Mal sieht, glaubt den perfekten Großvater vor sich. Seine Stimme ist voluminös, dunkel, wohlklingend; sie gehört einem Mann, der seinen letzten Lebensabschnitt begonnen hat in der Hoffnung auf noch ein paar gute Jahre. Dafür braucht er die Gewissheit, dass die Verantwortung für sein Tun und Lassen über viele Jahre die Prüfung auf Menschlichkeit besteht. Denn jene sprechen ihm gewisse Kreise ab.
Der, von dem die Rede ist, heißt Dieter Karl Dethloff und stand sein gesamtes Arbeitsleben im Dienst des MfS, zuletzt war er Major. Mecklenburgisch-bäuerlichem Milieu entstammend und durch ein vom NS-Staat drangsaliertes Elternhaus geprägt, verfolgt Dethloff aufgeschlossen bis begeistert die junge DDR, wobei er schnell bemerkt, welche Feinde sich aufraffen, gegen den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden zu intervenieren. Ihn zu „ködern“ ist leicht, entspricht doch der Versuch, eine gänzlich neue Gesellschaft zu wagen, genau dem Lebensplan des Jünglings. Bereits als Gymnasiast begreift er: Dieser neue Staat braucht besonderen Schutz. Man fragt ihn, ob er zur Verfügung stehe – und er steht zur Verfügung. Bis zum letzten Tag. Dazwischen liegen dreißig Jahre. Zuletzt kommen schlimme Tage, Wochen und Monate für ihn und viele andere, denen die DDR Heimat war. Manche sagen jetzt über ihn und jene anderen, sie seien Schweinehunde gewesen. Seither befragt Dieter Dethloff sein Gewissen: Bin ich ein Schweinehund gewesen? War das meine Lebensleistung?
Gegen ein kleines Innehalten gelegentlich, Zeit für ein Fragestündchen hätte er wohl nichts eingewendet, ob denn sein Weg immer die Mittel heilige, ob nicht hier und da ein wenig übertrieben werde – aber so einer am Ende geifernden Rache der Siegerjustiz ausgeliefert zu werden, sticht tief ins Herz, muss am Gewissen rütteln. Sollen die Ur-Enkel ihren Großvater in der Schule als Verbrecher identifizieren?
Da Dethloff bereits vor dem Abitur Volkskorrespondent der Schweriner Volkszeitung gewesen war, hat ihm das MfS ein Studium der Journalistik ermöglicht, das ihm nun Jahrzehnte später hilft, eine von seinem Gewissen geforderte Antwort zu formulieren auf die Delegitimierung seines Berufs als Offiziers eines Geheimdienstes: Er schreibt also auf, wie sein Leben verlief. Daraus wird ein Buch. Jetzt liegt diese Edition aus dem WiedenVerlag Crivitz auf dem Tisch. Eine umfassende Autobiografie ist entstanden, fünfhundert Buchseiten stark, zu haben für zwanzig Euro, portofrei bestellbar unter info@wieden-verlag.de oder bei Anruf im Verlag unter: 03863 555918.
Das Werk sei deswegen spektakulär, steht im Klappentext, weil es so unspektakulär ist. Es hat tatsächlich nicht die hoch getürmte Dramatik des Lebens der Anderen, den Anspruch auf Unrecht und Lüge um jeden Preis; Dethloff führt uns dagegen – was gelegentlich ein wenig ermüdend wirkt – in die technokratisch-bürokratischen Niederungen täglicher Arbeit, die aber notwendig ist, um die DDR zu verteidigen. Der Leser ist manchmal geneigt zu fragen: „War das alles?“ und „War das alles nötig?“ Gemeint ist u. a. das Hätscheln und Hegen reihenweiser IM’s. Eine wichtige Aufgabe, so der Autor, sei die Prävention gewesen. „Wir wollten die Stimmungslage im Land erkunden, unsere Erkenntnisse nach oben weiterleiten, damit dort die Politik angepasst werde im Sinne der Bürger.“ Es hätten dort oben nicht immer gute Zuhörer gesessen, schränkt er ein. Eines Tags sei ihm sogar aufgefallen, warum eigentlich er und sein Ministerium „nur“ Schild und Schwert der Partei sein sollten, warum nicht aller Bürger? Es habe nämlich keine geringe Menge Bürger gegeben, die nicht so sehr auf diese Partei standen. Ich frage Dethloff, ob diese Bedenken sein Gewissen schon während seiner Dienstzeit aktiviert hätten. Man habe sie auf Befehl verdrängt, aber sie seien als Nebelschleier am Horizont geblieben.
Der Autor berichtet, er habe konspiriert, Schleusungen verhindert, schlechte und gute Erfahrungen mit „seinen“ IM’s verbucht und Verdächtige zersetzt. Zersetzen heißt, in die Privatsphäre von Menschen eindringen, ihre Lebensumstände manipulieren, zerstören. Ein stets erfolgreiches Mittel für geheimdienstliche Aufklärung, von allen Geheimdiensten der Welt bar jeder Skrupel benutzt.
Gewiss, Dieter Dethloffs Mitarbeit an Zersetzung fand nicht jeden Tag statt. Ob er sich einer Schäbigkeit bewusst war? Wer seine Land möglicherweise vor noch Schlimmerem bewahren kann, als es diese Tätigkeit ist, sollte sein Gewissen unter die Obhut einer solchen Pflichterfüllung stellen. Überhaupt: einem Menschen abzuverlangen, eine Entscheidung treffen zu müssen, die für sein Gewissen gar nicht möglich ist, sie ist nicht nur nicht fair, sie ist grausam. Das sollten alle jene bedenken, die bis auf den heutigen Tag über die Staatssicherheit der DDR herfallen, als wäre sie eine eiskalte Räuberbande; wobei sie selbst Organisationen unterhalten, die ganze Staatswesen und deren Bevölkerungen massakrieren im Namen ihres Freiheitsbegriffs, der einen völlig anderen Inhalt hat, wie ihn die DDR beschrieb, der Dieter Dethloff seinerzeit diente.
Deutlich zeigt seine Autobiografie den großen Schnitt, die Niederlage. Und es will kein Gras darüber wachsen. Der Sieger siegt seit dreißig Jahren ununterbrochen weiter in die Köpfe hinein, denn der Besiegte bleibt renitent, Tendenz steigend. Vielleicht hätte die DDR unliebsame Regressionen gegen ihr Volk vermeiden können, hätte der Klassengegner nicht alle Register der Infamie und der Zersetzung gezogen. Zersetzung – hier taucht dieses Wort ein zweites Mal auf. Wer also erfährt je, welches die Guten und welches die Bösen sind? Sollte jemand die Farben des Sonnenspektrums zählen wollen, benötigte er einen langen Atem.
Das Buch „Karl Dieter Dethloff erzählt ein Leben im Dienst des MfS – Mein Gewissen und ich“ ist weit entfernt von philosophischer Rechtfertigung einer überlegenen Gemeinschaft – nicht nur, weil sie in einem Desaster endete, die Lektüre ist vielmehr ein offenherziger Einblick in das ländlich-kleinstädtische Leben „damals bei uns“, das heißt in der DDR. Nein, eine intellektuelle Verteidigungsschrift hat Dieter Dethloff nicht entworfen; das hat er nicht nötig. Er beschreibt seine Rolle als Kind, als Mann, als Ehegatte, als Familienvater, als Berufsoffizier in einem Lebenskreis, der trotz aller Irrtümer und Zwänge die Zukunft des menschlichen Überlebens in sich trägt – eine gewagte Prognose in kriegerischen Zeiten, in denen die Veräppelung des gesunden Menschenverstands in Mode gekommen ist. Für mich sind die Bekenntnisse des Ex-Majors als Vorlesebuch für kommende Generationen gut geeignet, damit jene Mode nicht dauerhaft bleibt.
R.St.