Wie besteht eigentlich so ein Zwerg wie der WiedenVerlag, der nicht einmal den Versuch macht, ja völlig frei von Ehrgeiz ist, neben den Großen zu bestehen? Eigentlich schlecht, wenn der Maßstab ist, Geld, Gold und zuletzt Macht über verletzliche Seelen von Menschen zu erringen. Wenn es dem WiedenVerlag trotzdem gut geht, sind der Grund mehrere Geheimnisse. Eins lernen Sie heute kennen – abgesehen von dem größten, alles überragende Geheimnis: dass nämlich der Umgang mit Büchern Freude macht (im letzten Wort finden wir die Macht wieder, aber es ist eine gänzlich andere Macht; die des Machens).
Also: Eines der Geheimnisse, die dafür sorgen, dass der WiedenVerlag existieren kann, ist der glückliche Umstand, dass sein Betreiber nahezu alle Arbeitsgänge beherrscht, die nötig sind, um aus dem Nichts ein Buch auf den Tisch zu legen. Er kann schreiben, redigieren, drucken, binden; begrenzte Auflagen natürlich, sagen wir bis 100 Stück. Größere Mengen hinterlassen Chaos in seiner kleinen Werkstatt, in der sich im Verlauf der Jahre diverse Technik angesammelt hat. Das meiste seiner Arbeit ist aber Handarbeit. Beispiel Buchdecken fertigen, zum Teil aus schönstem Buchbinderleinen, das der Verlagschef aus der maroden DDR gerettet hat. Da müssen Pappen geschnitten werden, Buchrücken, Bezugspapiere, in kleinsten Mengen, exakt nach Maß. Dann werden mit dem Leimpinsel die Teile angeschmiert. Für 12 Bücher, das lohnt doch gar nicht, sagt mancher. Und wer soll das bezahlen? Und dafür eine ISBN (internationale Buchstandardnummer) vergeben? Natürlich nicht!
Wer weiß, welche Lücke der WiedenVerlag erschlossen hat, kommt gerne mit individuellen Wünschen, oft sind es ältere Kunden, die ein bewegtes, spannendes Leben hinter sich haben und ihren Nachfahren etwas Bleibendes hinterlassen möchten. Noch zeigen die Enkel kein Interesse – aber irgendwann greifen sie zu dem Buch des Großvaters, weil sie wissen wollen, woher sie kommen, wie das Leben früher war, dass es Jahre gab, angefüllt mit unvorstellbaren Grausamkeiten.
Einmal war ein alter Herr bei mir, dem Betreiber des Verlags, vor langer Zeit aus Ostpreußen vertrieben, der mir Fotos, Schriftstücke, Urkunden, Feldpostbriefe sowie eine begonnene Familienchronik der Großmutter brachte, alles in steiler Sütterlinschrift verfasst. Er habe 45 Enkel und Urenkel; sie sollen eines Tages von den eigenen Ursprüngen erfahren. Ich konnte ihm nach einem viertel Jahr 45 prächtige Bände vorlegen, in waldgrünes Leinen gebunden, in silberner Fraktur geprägt den Namen des Dorfes auf dem Buchdeckel, das es längst nicht mehr gibt … Neben Tränen der Freude und der Erinnerung war ein die Zeiten überdauerndes Werk entstanden. Mir war bei der Manuskriptherstellung u.a. zugute gekommen, dass während meiner Schulzeit ein „Nebenbuhler“ einer Mitschülerin, die ich sehr gerne mochte, einen Text in Sütterlin in ihr Poesiealbum geschrieben hatte. Das wollte ich auch können – und brachte mir das Lesen und Schreiben dieser deutschen Schrift autodidaktisch bei. – Der alte Herr wird nun gestorben sein, aber wie er und seine Ahnen gelebt haben, bleibt als Buch bestehen. Und Bücher werden auch in hundert Jahren noch von wissenshungrigen Augen und ebensolchem Geist verschlungen, wenn bis dahin die verdigitalisierten, verroboterten und manipulierten Menschen nicht ganz verrückt geworden sind.
Rainer Stankiewitz